50 Jahre Grundgesetz -
07. Dez 1999
Am 23. Mai 1999 wird das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland 50 Jahre alt, Pax Christi - die deutsche Sektion der internationalen katholischen Friedensbewegung - will aus diesem Grunde Stellung beziehen. Dies geschieht in Erinnerung an die verbrecherischen Folgen der Politik im Namen des deutschen Volkes in den Jahren 1933 bis 1945. Das Grundgesetz ist ohne die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, den Völkermord an Juden, Polen, Sinti und Roma und die Verbrechen an vielen anderen Menschen nicht zu verstehen. Für immer wird der Name Auschwitz für die systematische Vernichtung von Menschen, die von deutschen Männern und Frauen organisiert und durchgeführt wurde, stehen.Das Grundgesetz des Jahres 1949 ist Ausdruck des unbedingten Willens des neuen deutschen Staates Bundesrepublik Deutschland, sich der Mahnung von Auschwitz zu stellen. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, das Verbot des Angriffskrieges, das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung sowie das uneingeschränkte Recht auf Asyl sind wesentliche Elemente dieser neuen Politik. Das Grundgesetz ist bis heute ein in Worte gefaßtes Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus und muß kritisches Korrektiv jeder Politik im Namen des deutschen Volkes sein.
Es ist das große Verdienst des Grundgesetzes, den Menschen vor dem Hintergrund der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges eine Perspektive für ein Leben in ökonomischer, sozialer und persönlicher Sicherheit eröffnet zu haben. Es ermöglichte in den Anfangsjahren der Republik die Integration der Flüchtlinge in die Gesellschaft und stellte das friedliche Zusammenleben der Deutschen untereinander und innerhalb der Völkergemeinschaft auf eine stabile demokratische Grundlage.
Die Würdigung des Grundgesetzes macht es aber auch erforderlich, eine andere Seite seiner Geschichte zu betrachten. Dabei stellen wir fest, daß die Geschichte des Grundgesetzes auch eine Geschichte der Eingriffe und Veränderungen verfassungsrechtlicher Bestimmungen darstellt, wie die Betrachtung der "a-Artikel" der aktuellen Fassung des Grundgesetzes veranschaulicht. Pax Christi sieht die Gefahr, daß der freiheitliche und humanitäre Geist des Neuanfangs verlorengeht, und fordert Politikerinnen und Politiker, BürgerInnen und Bürger in Deutschland zu einer neuen Diskussion der Verfassung auf.
Unter drei Aspekten wollen wir unsere Kritik vortragen: Aus friedenspolitischer Perspektive, mit Blick auf den Abbau von Grundrechten und hinsichtlich der Einschränkung des Rechts auf Asyl,
Vom Friedensgebot zum Kriegseinsatz
Die Einsichten aus dem 2. Weltkrieg - die sich exemplarisch in der Haltung "Nie wieder Krieg" ausdrückte - waren schnell vergessen, als es um die Westintegration der westlichen Teile Deutschlands ging. - und nicht um eine friedenspolitische Neutralität des gesamten Deutschland. Mitte der 50er Jahre wurde die Wehrverfassung in das Grundgesetz hineingezwängt. Die Bundeswehr wurde gegründet (Art. 87a GG) und die NATO-Integration folgte.
Anfang der 90er Jahre, als nach der Vereinigung eine neue Chance für eine friedenspolitische Wende zur Abrüstung bestand, wurde die Begrenzung des Bundeswehrauftrages auf Landesverteidigung in Frage gestellt. Angesichts globalisierter Interessen baute der Westen seine Militärstrukturen mit dem Ziel um, weltweit für eigene Interessen Krieg führen zu können. Seit dem Golfkrieg wurde der Auftrag der Bundeswehr kontinuierlich in Richtung auf Beteiligung an Einsätzen internationaler Krisenreaktionskräfte erweitert.
Es erfolgte keine Änderung des Grundgesetzes. aber die Entscheidung des Verfassungsgerichts aus dem Jahre 1994 eröffnete einen politischen Handlungsspielraum, der dem Friedensgebot des Grundgesetzes entgegensieht, in dem z. B. die Beschränkung der Bundeswehr auf den Auftrag der Landesverteidigung gem. Art. 87a GG außer Acht gelassen wurde.
Obwohl nach Art. 25 GG das Völkerrecht Bestandteil des Bundesrechtes ist, kann bei Militäreinsätzen inzwischen auf das UN-Mandat verzichtet werden, wenn dies gemäß der Lagebeurteilung der Bundesregierung dringlich erscheint.
Die Problematik dieser Interpretation wird durch die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien offenbar. Die Verletzung der Menschenrechte und der aktuelle Schutz der Menschen im Kosovo bilden für die Bundesregierung die Legitimation für die Beteiligung an einem Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Deutschland nimmt damit jedoch einen Verstoß gegen das Völkerrecht und die Verletzung der Art. 25 und 26 GG in Kauf. Dies öffnet die Tür zur aktiven Beteiligung an Kriegseinsätzen und unterläuft die im GG festgeschriebene Selbstverpflichtung Deutschlands zum Gewaltverzicht.
Von Beginn an stand die Bundeswehr mit ihrer Verfaßtheit in einer starken Spannung zu den Grund- und Freiheitsrechten des Grundgesetzes. Das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (Art. 4 Abs. 3 GG) wurde vom Regelfall zur Ausnahme. Alle männlichen Bürger werden zur Wehrpflicht gezwungen (Art. 12 a GG). Einzelne Grundrechte, wie das Demonstrationsrecht und das Recht auf freie Meinungsäußerung, sind eingeschränkt. Die öffentliche Kontrolle durch die Medien ist erschwert, Die Befehl-Gehorsam-Struktur ist ein Fremdkörper in einer demokratischen Gesellschaft.
Darüber hinaus sind anerkannte Kriegsdienstverweigerer im Spannungs- und Verteidigungsfall in das militärische Verteidigungskonzept integriert. Totalverweigerer, junge Männer, die sich aufgrund dieser Tatsache nicht in der Lage sehen, Wehr- oder Zivildienst zu leisten, werden strafrechtlich verfolgt, obwohl sie eine Gewissensentscheidung getroffen haben, die dem ursprünglichen Geist des Grundgesetzes sehr nahe kommt.
Von der Sicherung der Bürgerinnen- und Bürgerrechte zur Sicherung von Staatsinteressen
Unser zweiter Kritikpunkt ist der stetige Grundrechteabbau. Die Notstandsverfassung von 1968 brachte den Staat hervor, der sich nach innen zunehmend gegen Bürgerinnen und Bürgerrechte abschottete. Für den inneren Notstand wurden erweiterte Befugnisse für Polizei und Bundesgrenzschutz geschaffen sowie der Einsatz der Bundeswehr im Inneren erlaubt (Änderungen in Art. 91 und 87a GG). Verschiedene Grund- und Freiheitsrechte wurden unter den Vorbehalt möglicher Einschränkungen im Falle der Bedrohung der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" (FDGO) gestellt, wie es unter dem Stichwort Lauschangriff geschehen ist.
Weitere Eingriffe in die Grundrechte fanden bezüglich der "Inneren Sicherheit" statt. Die 70er und 80er Jahre waren geprägt von Aushöhlungen von Rechten, die insbesondere in der Strafprozeßordnung geregelt sind, und von Verschärfungen des Strafgesetzbuches: Die Prozesse gegen die RAF führten zum Abbau von Verteidigerrechten und zur Aufweichung des Tatschuldprinzips zugunsten eines Gesinnungsstrafrechts im Strafgesetzbuch.
Weitere Stichworte sind: Erweiterung der Telefonüberwachung; Verteidigerausschluß; Verbot der Mehrfachverteidigung; Überwachung von Verteidigerpost; Kontaktsperregesetz; Einführung der §§ 88 a (verfassungsfeindliches Befürworten von Straftaten) und § 129a (terroristische Vereinigung) in das Strafgesetzbuch und die Einführung von §129a- spezifischen Polizeimaßnahmen; Vermummungsverbot; computergestützte Schleppnetzfahndung.
Der Trend des verschärften Ausbaus des Sicherheitsstaates hat in den 90er Jahren nicht nachgelassen: Ausweitung von Kompetenzen des BGS, der zur Bundespolizei entwickelt wird; verdachtsunabhängige Kontrollen, Verschärfungen der Polizeigesetze der Länder. Schließlich der Große Lauschangriff, mit dem das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) erheblich eingeschränkt wurde.
Vom Schutz der Verfolgten zur Verfolgung der Schutzsuchenden
Drittens sehen wir in der rigorosen Einschränkung des Asylrechts eine besonders eklatante Abkehr von der ursprünglichen Intention des Grundgesetzes.
Mißmut und Wut der BürgerInnen und Bürger auf die PolitikerInnen angesichts des Sozialabbaus und zunehmender Massenarbeitslosigkeit wurden von Teilen der Politik und Medien mit Parolen vom "vollen Boot" beantwortet. Eine Welle von Gewalt gegen AusländerInnen und AsylbewerberInnenheime folgte: Hoyerswerda. Hünxe und Solingen stehen für diese "Sündenbock"-Politik.
In dieser Atmosphäre wurde ein Kronjuwel der Verfassung substanziell beschädigt: das in Art. 16 GG enthaltene Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte. Am 26. Mai 1993 beschloß der Bundestag den neuen Art. 16a GG, der das Asylrecht unter anderem durch die Konstruktion der "sicheren Drittstaaten" und der "sicheren Herkunftsstaaten" de facto außer Kraft setzte. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte in einem seiner verfassungsrechtlich verhängnisvollsten Beschlüsse 1996 das neue Asylgesetz. Art. 19 Abs. 2 GG wurde damit der Lächerlichkeit preisgegeben: "in keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden."
Seitdem wird die Würde der nicht-deutschen Mitbürgerinnen und -bürger und Asylsuchenden in immer größerem Maße verletzt: durch extensiven Gebrauch von Abschiebehaft; durch die Ausgrenzung von Asylsuchenden aus dem Bundessozialhilfegesetz; durch Asylanerkennungsverfahren, die ihren Namen nicht verdienen; durch Auslieferung von Asylsuchenden an ihre ehemaligen Folterer; durch die Nichtanerkennung frauenspezifischer Fluchtursachen.
Auf zu einer neuen Verfassungsdiskussion
50 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik steht es schlecht um ihre Verfassung. Statt die gesellschaftliche Wirklichkeit zunehmend den Idealen der Verfassung anzugleichen - und dies als die zentrale Aufgabe aller Politik wahrzunehmen - geschieht genau das Gegenteil. Der ursprüngliche Sinn von Grundrechten, nämlich die individuelle Freiheitssphäre der Bürgerinnen und Bürger vor dem Zugriff des Staates zu schützen, wurde zusehends in sein Gegenteil verkehrt.
Die Verfassung wurde immer dann verändert, wenn sie wirtschaftlichen oder herrschaftlichen Interessen gegenüber sperrig war. Wo die Verfassung auf mehr Demokratie hin offen ist, wurden diese Chancen nicht genutzt, zum Beispiel hinsichtlich plebiszitärer Elemente. Zwar heißt es in Art. 20 Abs. 2 GG "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ... ausgeübt", zwar gibt es ein Bundeswahlgesetz, aber es gibt kein Bundesabstimmungsgesetz für Volksentscheide. Auch da, wo die Verfassung Grundprinzipien enthält, die die staatliche Politik in ihrer Grundausrichtung binden sollten, etwa das Gleichstellungsprinzip von Mann und Frau (Art, 3 Abs. 2 GG) oder das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), werden diese Prinzipien keineswegs hinreichend durch Gesetze gestaltet.
1990 gab es die große Chance eines neuen Aufbruchs, die Chance einer Verfassungsdiskussion von unten mit breiter Beteiligung der BürgerInnen und Bürger. Noch in der DDR wurde mit dem "Entwurf für eine neue Verfassung der DDR", vorgelegt im Auftrag des Zentralen Rundes Tisches im April 1990, ein Anfang gemacht. Der Entwurf des Runden Tisches sollte in die Debatte um eine neue gesamtdeutsche Verfassung ausdrücklich einbezogen werden. Im Mai 1991 legte dann das "Kuratorium für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder" einen Verfassungsentwurf mit dem Titel "Vom Grundgesetz zur deutschen Verfassung" vor. Aber statt damit eine gründliche Verfassungsdiskussion zu beginnen und gemäß Art. 146 GG die Bürgerinnen und Bürger über eine Verfassung "in freier Entscheidung" beschließen zu lassen, wurde der Anschluß der DDR nach dem für den Saarland-Anschluß vorgesehenen Art. 23 GG (alte Fassung) vorgenommen. Zwar wurde eine Verfassungskommission in Bonn eingesetzt, an die sich auch viele Bürgerinnen und Bürger mit ihren Anliegen und Begehren wandten. Herausgekommen ist dabei jedoch so gut wie nichts; ja oft genug erhielten Bürgerinnen und Bürger auf ihre Eingaben noch nicht einmal eine Antwort.
Anläßlich des 50. Jahrestages des Grundgesetzes fordert Pax Christi
- die Bürgerinnen und Bürger dazu auf, die Verfassungsdiskussion nachzuholen, die nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1989/1990 versäumt worden ist;
- das Parlament und die politischen Parteien dazu auf, den Raum für die dringend erforderliche Verfassungsdiskussion und -entscheidung für die Bürgerinnen und Bürger entsprechend Art. 146 GG freizugeben: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Die Friedenssicherung in der Perspektive des Gewaltverzichts, die Weiterentwicklung der Grund und Menschenrechte, die Demokratisierung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche sowie der Einsatz für die Würde jedes einzelnen Menschen bilden die Grundlage einer zivilen und offenen Gesellschaft, die die Erfahrungen von Auschwitz zur bleibenden Korrektur ihrer politischen Prozesse macht und offen ist für die Überwindung nationaler Grenzen.
Bad Vilbel, den 17. Mai 1999